Moskau City

Mai 2017
Westen Moskaus
Panorama, Architektur
58. Etage
René Lösel
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
  • 4 km vom Kreml entfernt
  • Bis 374 Meter hohe Wolkenkratzer
  • Aussichtsplattformen auf der 58. und 89. Etage
Moskau City ist das moderne Geschäftszentrum, eine Stadt in der Stadt, in der man lebt, arbeitet und sich unterhaltet. In Moskau City sind Büros führender russischer und internationaler Unternehmen untergebracht. Reisenden können hier die Hauptstadt aus der Vogelperspektive bewundern, über die Geschichte des Hochhausbaus erfahren und das moderne Moskaubild abfassen.
    Ratlos schiebe ich das Foto zurück.
    „Manhattan? Dubai?"
    „Moskau City!"
    „Nie im Leben!"
    Hightech-Wolkenkratzer passen nicht in mein Moskau-Bild. Das besteht aus Lenin-Mausoleum, Militärparaden und Lomonossow-Universität. Fragmente aus der Schulzeit. Und gegenwärtig? Zar Putin - dann eine Weile nichts. Ich erschrecke, aber wundere mich nicht. Wo mit Vorbehalten Politik gemacht wird, fehlt es an informativen Details.
    Mein Entschluss steht: Ich reise selbst zu den Wolkenkratzern. Auf nach Moskau City!

    Das war vor sechs Monaten. Das Visum besorge ich mir über eine Agentur. Die Flugtickets kaufe ich im Internet. Hotelzimmer und Tour-Programm organisiert Anna für mich. Sie ist Beraterin bei einem kleinen aber feinen Reisebüro in Moskau.

    Der Frühling ist sonnig und mild. Nur selten regnet es. Unser Fahrstuhl stoppt sanft, Türen gleiten auseinander. Wir lassen die lärmende Touristengruppe vorausgehen. Elena, meine Reiseführerin, senkt beschwichtigend ihre Hand. Zeit für einen ersten Eindruck: Beige Farben erhellen den Vorraum, in der Mitte des Marmorbodens bildet sich ein Rechteck mit Dielenstruktur ab. Zur Zierde oder als Hommage an die Izba, die russische Holzhütte? Wir betreten eine kahle Etage mit dem Charme von Baustelle. Die rohe Betondecke ruht auf gemauerten, im Raum verteilten Säulen. Grauer Spannteppich dämpft die Schritte. Sonnenlicht flutet durch schräge, übermannshohe Fenster herein. Deren Rahmen werfen lange Schatten auf den Boden. Links eine unverputzte Blocksteinwand. Großraumbüro - nur ohne Büro, denke ich.

    Durch das grüne Fensterglas schaut man hinaus wie durch eine Sonnenbrille.
    Prall heben sich schneeweiße Haufenwolken vom sattblauen Himmel ab. Unten breitet sich die Hauptstadt als grenzenlose Fläche nach allen Seiten aus, durchzogen vom mäandernden Flusslauf der Moskwa.
    Alle Spitzen entdecken
    Meine Augen suchen das Zentralstadion. Heute heißt es Olympiastadion. Elena erzählt mir, dass im Jahre 2018 dort das Endspiel der Fußball-WM ausgetragen wird. Weiter rechts entdecke ich die gigantische Lomonossow-Universität. Offenbar ist alles von außergewöhnlicher Dimension, was aus der Fläche herausragt: Wohnkomplexe, Hochhäuser, Fabriken, Schornsteine.

    Ich genieße den Moment und stehe am Ziel meiner Reise: im achtundfünfzigsten Stockwerk des Imperia-Towers. Inmitten der Wolkenkratzer von Moskau City.
    Wer meint, Moskau City sei nur eine andere Bezeichnung für das Stadtzentrum, der irrt. Um welche Art von Zentrum es sich wirklich handelt, verrät der offizielle Name Московский международный деловой центр «Москва-Сити» - auf Deutsch: Moskauer internationales Geschäftszentrum „Moskau City". Dennoch liegt es im Stadtzentrum, nämlich am westlichen Rand des Zentralen Verwaltungsbezirkes, im Presnenski-Distrikt, nur wenige Kilometer Luftlinie zum Kreml.

    Moskau City. Aussichtsplattform in Moskau.
    Bei Abendbeleuchtung
    Die Idee eines internationalen Finanzzentrums entwickelte die Moskauer Stadtverwaltung bereits in den frühen neunzehnhundertneunziger Jahren. Einer der eifrigsten Verfechter war der damalige Bürgermeister Juri Luschkow.
    Obwohl anfangs belächelt und kritisiert, gediehen die Planungen. Auf rund einhundert Hektar ehemaligen Steinbruchund Industrie-Geländes sollen am Ufer der Moskwa achtzehn supermoderne Wolkenkratzer, angeordnet um einen Zentralkern, in den Himmel wachsen.

    Eine Stadt in der Stadt, in der nach Fertigstellung auf über vier Millionen Quadratmetern Geschossfläche mehr als dreihunderttausend Menschen arbeiten, leben und sich erholen würden. Der Rossija-Tower des britischen Architekturbüros Foster + Partners - wegen Sicherheitsbedenken auf 612 Meter Gebäudehöhe reduziert - ist dann eines der modernsten und höchsten Gebäude der Welt.

    In Zeiten des russischen Wirtschaftswachstums, zwischen den Jahren 2000 bis 2007, wird auf den 30 Parzellen in Moskau City geklotzt, nicht gekleckert. Der Tower 2000, ein vierunddreißiggeschossiges Bürogebäude, der Nabereschnaja Turm C, 268,4 Meter hoch und der Servernaja Tower, der das mit achtzig Metern höchste Atrium Europas enthält, sind gerade übergeben, da schlägt die internationale Finanzkrise durch. Jetzt wird in geänderten Dimensionen geplant, der Rotstift angesetzt.

    Prominentestes Opfer ist der Rossija-Tower. Der erste Spatenstich erfolgte am 18. September 2007. Noch vor der Einweihung im Jahre 2012, wird das Vorhaben im Oktober 2008 aus finanziellen Gründen eingestellt und am 27. April 2009 durch den Moskauer Stadtarchitekten Alexander Kuzmin offiziell für beendet erklärt.
    Zu den fallende Ölpreisen kommen die Sanktionen des Westens. Gelder werden abgezogen, Investments finden nicht statt, Baustopps folgen. Den Finanzproblemen, behördlicher Bürokratie und Planungsmissständen zum Trotz, wächst Moskau City nun zwar langsamer, aber es wächst. Mag man sich im Westen über den Leerstand in den Luxus-Immobilien noch so sehr echauffieren - Moskau glaubt an seine Zukunft. Derweil arbeitet man infrastrukturelle Versäumnisse der Vergangenheit auf:
    die Integration des Geschäftszentrums in das Moskauer Verkehrsnetz.

    Im Jahre 2016 sind von dreiundzwanzig Gebäuden zwölf fertiggestellt, sieben in der Bauphase und vier in der Planung. Wenn im Jahr 2017 der Ostturm des Federazija-Towers eingeweiht wird, ist er mit 374 Metern dennoch der höchste Wolkenkratzer Europas.

    Modell von Moskau City. Geschäftskomplex in Moskau.
    Modell von Moskau City
    Wir schlendern durch die Etage, in dessen Mitte ein Modell von Moskau City aufgestellt ist. Elena erklärt mir, dass heute alles „etwas anders" aussehen würde. Kein Wunder.

    Ich schaue hinüber zu den beiden Gorod Stoliz-Towern Moskwa und Sankt-Peterburg. „Unser" Imperia spiegelt sich in der glänzenden Fassade des Moskwa. Aber Augenhöhe sieht anders aus: „Wir" sind eben nur 239 Meter hoch, er dagegen 302 Meter. Von der Nordwest-Ecke der Etage aus verfolge ich die kantige Kubatur des 308 Meter hohen Eurasia. Unmittelbar daneben steht Zapad, der kleine Federazija-Tower. Der „Kleine" ist 244 Meter hoch. Beim großen Federazija, Wostock, muss ich den Kopf schon mal heben, will ich das obere Ende des 374 Meter-Riesen betrachten.
    Mein Favorit ist der gold-glänzende Mercury zur Rechten. Kürzlich las ich, dass seine ursprüngliche Planungshöhe 380 Meter betrug. Aufgrund geänderter Bauvorschriften musste man sich mit 332 Metern zufrieden geben. Das Leben kann hart sein.

    Die überwältigende Aussicht und Elenas unerschöpfliches Faktenwissen lassen die Zeit wie im Flug vergehen. Wir müssen wieder hinunter. Vierzig Sekunden Abwärtsfahrt später, stehen wir in der Empfangshalle. Ich gehe nach draußen und atme die frische Frühlingsluft genussvoll ein.

    Natur ist Natur, besonders heute. Elena erzählt von einem Aussichtspunkt, der einen großartigen Blick auf das Panorama von Moskau City bietet. Wir passieren den Evolution-Tower, der sich in Form einer Doppelhelix 255 Meter nach oben schraubt, wechseln auf der Bagration-Brücke hinüber auf das andere Moskwa-Ufer. Kein Zweifel, dieser Anblick ist einfach phantastisch. Vor mir reihen sich die Wolkenkratzer in ihrer ganzen Pracht, zu ihren Füßen die Bootsanleger am Moskwa-Ufer. Ich zücke die Kamera für ein Abschiedsbild.

    Plötzlich erinnere ich mich an jenes Foto, das ich vor einem halben Jahr in den Händen hielt. Es entstand genau an dieser Stelle.

    Blick auf Moskau City. Aussichtsplattform in Moskau.
    Panorama vom Aussichtsplattform bei der Bagration-Brücke
    Mein Moskau-Bild hat sich verändert. Und so widerspiegeln die Wolkenkratzer den Zwiespalt des gegenwärtigen Russland.
    Sie sind Ausdruck des zurückgewonnenen Selbstbewusstseins, auf der weltpolitischen Bühne wieder „wer" sein zu wollen und es auch zu können. Andererseits belasten Finanzkrisen, die hausgemachten Folgen einseitiger Industrialisierung, Korruption und westliche Sanktionen die russische Wirtschaft. Das erklärt, warum Moskau City auch heute noch kein internationales Finanzzentrum ist. Es fehlen die internationalen Banken.

    Typisch russisch macht man aus der Not eine Tugend: Vergesst den Traum von 18 Wolkenkratzern – 15 tun es auch! Will keine Bank in den Tower einziehen, dann eben ein Hostel. Wer sonst außer uns kann ein „High-Level-Hostel" in der siebenundvierzigsten Etage vorweisen? Eine europäische Erfolgsstory mit Reserven beim Marketing. Moskau ist europäisch!

    Gehen Sie durch seine pulsierenden Straßen und schauen Sie sich die Menschen an. Sie sind nicht anders als bei uns – freundlich, stolz und anspruchsvoll. In den Kaufhäusern und Geschäften, sind längst alle namhaften Marken präsent - um nur einige zu nennen: Gucci, Armani, Lacoste, Vuitton, Bogner, Gant für die einen, McDonald's, Nespresso, Ikea und Obi für die anderen. Maybachs sieht man am Tag mehr als in Deutschland das ganze Jahr - Mercedes, Porsche und BMW wie hierzulande den Golf. Ford Focus gibt es ebenfalls - ja, der Reichtum ist ungleich verteilt. Aber auch das ist europäisch.

    Moskau City steht bereit, seine Rolle als First-Class-Adresse der internationalen Finanzwelt einzunehmen.
    Große Wirtschaftskonzerne haben ihre Vorausabteilungen hier schon längst etabliert. Bleibt auf den baldigen Zeitpunkt zu hoffen, wenn Sachverstand und Vernunft über die Ressentiments der Politik siegen.

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